Viereinhalb schmissige Thesen zum Bilderbogen

Viereinhalb schmissige Thesen zum Bilderbogen

Wer von seinen eigenen Thesen behauptet, sie wären schmissig, hat – will er nicht als Hochstapler abgestempelt werden – besser was zu sagen. Schnell steht da der Verdacht im Raum, dieser Jemand habe mit einem alten Hütchenspielertrick die Schlüssigkeit seiner Behauptungen mit deren Schmissigkeit vertauscht. Dabei ist der Schmiss kein Rudiment aus längst vergangenen Tagen oder bloß Erkennungszeichen dubioser Studentenbünde. Mag die charakteristische Narbe auch von den Gesichtern der Akademiker verschwunden sein, auch heute gibt es noch Rituale, die über Aufnahme oder Ausschluss in die Brave World of Academia entscheiden.

Florenz Gilly, Podcastredakteur und Hilfskraft a. D., versucht in diesem Beitrag, auf die Zugangshürden des akademischen Diskurses hinzuweisen, beginnend mit der Reflexion über eine Kleinform, die wohl jede*r Akademiker*in eine enge Vertraute ist: die These, jene Grenzgängerin zwischen Logik, Rhetorik und Philosophie, Wissenschaft und Journalismus, die oft nur die Spitze des Eisbergs eines weitaus komplexeren, argumentativen Unterbaus repräsentiert. Aus institutioneller Perspektive sind Thesen, mit Wilhelm Busch aphoristisch als Hypothesen verstanden, der Versuch, sich in einen Forschungsdiskurs zu inserieren, mithin ein Sprechakt, der gelingen oder misslingen, Aufmerksamkeit erregen oder ungehört bleiben kann.

Im Hauptteil seines Vortrags, den Florenz im Sommersemester 2021 via Zoom im Plenum des Graduiertenkollegs Kleine Formen gehalten hat, stellt er vier Thesen aus seinem Masterarbeitsprojekt vor, Arbeitstitel „Das grafische Diminutiv. Bürgerliche Verkleinerungsfantasien im langen 19. Jahrhundert“. Als Bilderbogen bezeichnet man heute einseitig bedruckte Blätter zu diversen Themen (e. g. Krieg, Religion, Theater, Floristik, Kindheit), die sich u.a. durch ein einheitliches und relativ stabiles Format sowie durch eine Zentralisierung der Produktion auszeichnen – deshalb findet man häufig Lokalgeschichten des Augsburger, Nürnberger, Münchener oder Neuruppiner Bilderbogens. Oder, es werden Verlagsgeschichten erzählt, etwa die des  Papierwarenhändlers Matthäus Trentsensky, der in Wien die sogenannten „Mandl-“ oder auch „Manderlbogen“ herausgab.

Florenz’ Arbeit schlägt einen anderen Weg ein, indem er die Geschichte des Bilderbogens von ihren kleinsten Protagonist*innen (Kinder) und ihrem größten gemeinsamen Nenner (Krieg) her erzählt, um anschließend am Beispiel von fünf mehr oder weniger distinkten Bilderbogengattungen die Formatfrage durchzuspielen: narrative Bildergeschichten oder Bildfolgen, großflächige Märchenbilderbogen, die sog. „Aktualitätenbogen“ als eine (pseudo-)journalistische Kleinform, Devisenbogen zum Ausschneiden, Theaterbilderbogen. Sie alle, so die hypothetische Klammer, die die Untersuchung zusammenhält, laborieren in je gattungsspezifischer Weise an Fragen der Größe, Verhältnismäßigkeit und des Maßstabs, wobei Größenrelationen immer auch Machtverhältnisse sind, die im Medium Bilderbogen thematisiert, affirmiert, problematisiert und/oder subvertiert werden.

Bei Fragen, Anmerkungen, Zustimmung oder Kritik schreiben Sie Florenz Gilly gerne direkt unter gillyflo@hu-berlin.de. Er würde sich freuen!

Literaturhinweise

Alltag, Klatsch und Weltgeschehen. Neuruppiner Bilderbogen. Ein Massenmedium des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Brakensiek, Stefan, Bielefeld 1993.

Busch, Wilhelm:Sämtliche Bilderbogen in einem Band, Zürich: Edition Olms 1979.

Die große Welt in kleinen Bildern. Berliner Bilderbogen aus zwei Jahrhunderten, Berlin 1999.

Es welken schnell die Blumen unseres Lebens…, in: Der neue Blumengarten. Stadt und Land auf Neuruppiner Bilderbogen, hrsg. von Lisa Riedel und Werner Hirte, Berlin 1988, 137-141.

Hilscher, Elke: Die Bilderbogen im 19. Jahrhundert, München 1977.

Gier nach neuen Bildern. Flugblatt, Bilderbogen, Comicstrip, hrsg. von der Stiftung Deutsches Historisches Museum, Darmstadt 2017.

Kohlmann, Theodor: Neuruppiner Bilderbogen, Berlin 1981.

Sigrid Metken: Geschnittenes Papier. Eine Geschichte des Ausschneidens in Europa von 1500 bis heute, München 1978.

Niehaus, Michael: Was ist ein Format?, Hannover 2018

Putjenter, Sigrun: „Nun aber wollen wir sie dreschen!“ Bilderbogen in der Sammlung „Krieg 1914“ der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Berlin 2013.

Röhler, Walter: Große Liebe zu kleinen Theatern, Hamburg 1963.

Ueding, Gert: Wilhelm Busch. Das 19. Jahrhundert en miniature, erw. und rev. Neuausgabe, Frankfurt am Main und Leipzig 2007.

Veit, Walter F.: These, Hypothese, Historisches Wörterbuch der Rhetorik Online, 2013.

Zaepernick, Gertraud: Neuruppiner Bilderbogen der Firma Gustav Kühn, mit einem Beitrag von Wilhelm Fraenger. Leipzig 1971.

Weblinks

Saskia Richters Hinweise zur Thesenbildung, aus denen Florenz in seinem Paralipomenon kurz zitiert,  ist online unter unter www.uni-hildesheim.de (Direktdownload) verfügbar.

Während es scheint, als hätte die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Medium Bilderbogen in den achtziger Jahren aufgehört, hat sich in jüngster Zeit in Hannover ein einzelner Forscher auf dem Gebiet der Bilderbogenforschung profiliert: Julian Auringer betreibt die Forschungsplattform bilderbogenforschung.de, die neben theoretischen Grundlagen auch eine größere Menge an Einzelanalysen vornehmlich sequenzieller Bilderbogen enthält. Seine lesenswerte Dissertation Der sequenzielle Bilderbogen des 19. Jahrhunderts (Hannover 2019) ist ebenfalls frei im Netz verfügbar.

Für einen ersten Eindruck  von der Vielfalt der europäischen Bilderbogenproduktion lohnt sich ein Blick in die digitalisierte Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin. Die Datenbank des Ethnologischen Museums Berlin ist ein ebenso guter Anfang. Eine große, digital zugängliche Sammlung von Bilderbogen, insbesondere Theaterkulissen und Figurinenbogen, hält das Germanische Museum Nürnberg. Einige Münchener Bilderbogen befinden sich im Besitz der Bayerischen Staatsbibliothek (zur Digital Collection). Auch das Theatermuseum Wien hat einen kleinen Bilderbogenfundus, deren ausgesuchte Stücke in der Online-Datenbank des Museums verzeichnet sind.

Credits

Text und Schnitt:
Florenz Gilly

Moderation:
Katharina Richter

Aufnahme:
Serafin Dinges und Lara Helder

Redaktion:
Darja Benert

Musik (CC-Lizenz):
Alle Tracks für diese Episode stammen aus dem Free Music Archive. Songs und Interpreten (in alphabetischer Reihenfolge):

„Am I the Devil?
„Fantasy and Denouement und „Kid Is Frangin“ von Podingtonbear
„Fuck it  von Broke for Free
„Golden von Little Glass Men

Geräusche:
BBC Sound Effects

Jingle:
Michael Hoeldke

Station Voice:
Cathrin Bonhoff

Bildnachweise:

  1. These: Kleines Theater (1975), Neuruppiner Bilderbogen Nr. 1587, Oehmigke & Riemschneider | Staatsbibliothek zu Berlin – Digitale Sammlungen, PURL: http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0001E0C000000000 [Abrufdatum: 9. Juli 2021, Public Domain].
  2. These: Devisen mit Sprüchen (1882), Neuruppiner Bilderbogen Nr. 7105, Oehmigke & Riemschneider | Staatsbibliothek zu Berlin – Digitale Sammlungen, PURL: http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0001DFC000000000 [wie These 1].
  3. These: Schlacht bei Saarburg i. Lothr. am 21. August 1914 (1914), Weissenburger Bilderbogen Nr. 1840, C. Burckardt’s Nachfolger | Sammlung: Museum Europäischer Kulturen, PURL: http://www.smb-digital.de/eMuseumPlus?service=ExternalInterface&module=collection&objectId=1619159&viewType=detailView [Abrufdatum: 9. Juli 2021, Lizenz: CC BY-NC-SA 3.0 DE].
  4. These: Wilhelm Tell: Figuren von Bogen 5 und 6, Matthias Trentsensky | © KHM-Museumsverband/Theatermuseum, Wien, Permalink: www.theatermuseum.at/de/object/7a2136cfe6/ und www.theatermuseum.at/de/object/8403befb97/ [beide abgerufen am 9. Juli 2021, beide CC BY-NC-SA 4.0].

Danksagung

Der Vortragende ist sehr dankbar um die vielen Anregungen, Kommentare und Einwände aus dem Plenum des Graduiertenkollegs. Großer Dank auch an Serafin Dinges, der fürs Einspechen der Sprechertexte sein Heimstudio zur Verfügung stellte. Vielen herzlichen Dank!

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