Erzähltes Wissen, archiviertes Wissen: Kleine Wissensformen und poetologische Transformationen in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts

Erzähltes Wissen, archiviertes Wissen: Kleine Wissensformen und poetologische Transformationen in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts
21. Dezember 2017 Florenz Gilly

Erzähltes Wissen, archiviertes Wissen: Kleine Wissensformen und poetologische Transformationen in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts

Erzähltes Wissen, archiviertes Wissen: Kleine Wissensformen und poetologische Transformationen in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts

Ein Workshop des Graduiertenkollegs “Kleine Formen” in Kooperation mit der Professur für Literatur- und Kulturwissenschaft (ETH Zürich) sowie dem Zentrum für Geschichte und Philosophie des Wissens (Universität Zürich/ETH Zürich)

18. bis 19. Januar 2018, Humboldt-Universität zu Berlin, Dorotheenstraße 24, Raum 3.246

Der Workshop fokussiert die poetologischen Transformationen von unterschiedlich kodiertem ‚Material’ und ‚Wissen‘ im Rahmen von Schreibprozessen. Seit jeher greifen Schriftsteller*innen auf Wissensbestände zurück, die im Rahmen ihrer Tätigkeit einen mehr oder weniger zentralen Stellenwert besitzen. Woher sie diese beziehen und wie sie ihre Kenntnisse, Beobachtungen und Ideen sammeln und verwalten ist ein literaturwissenschaftlich höchst vielschichtiger Untersuchungsgegenstand, der im Mittelpunkt verschiedener methodischer Zugänge steht. Autorenbibliotheken, Zettelkästen, Notizbücher, Konvolute und auch materielle Sammlungen können dabei als Ressource dichterischer Produktivität angesehen werden und bilden somit einen wichtigen Bestandteil der Schreibprozessforschung. Die Wichtigkeit von Bibliotheken und anderen Textsammlungen als Teil von Schreibprozessen und als Wissensreservoir wird theoretisch begründbar, wenn man u. a. mit Julia Kristeva, Roland Barthes oder Gérard Genette von einem transtextuellen Literaturbegriff ausgeht – davon also, dass sich „[e]in literarisches Werk […] selten nackt [präsentiert], ohne Begleitschutz einiger gleichfalls verbaler oder auch nicht-verbaler Produktionen“, kurz gesagt, ohne Paratexte und Intertexte (Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a.M. 1989, S. 9).

Von  besonderem  Interesse  ist  die  Analyse  gegenläufiger  Spannungen  innerhalb  der Schreibprozesse zwischen ‚kleinen Formen‘ (bspw. die ‚Lesespuren‘, Notizen, Skizzen und Exzerpte der Autor*innen) und  ‚Großform‘ (Bibliotheken, Enzyklopädien, Chroniken   und   sonstige   Referenzwerke   als   Speicherorte   von   theoretischem   und praktischem Wissen). Auch die Großform wäre hier aber nur durch das Denken und Schreiben in kleinen Formen im Sinne einer ‚fragmentarischen Totalität‘ vorstellbar.

Der kulturwissenschaftliche Terminus des ‚Materials‘ lässt sich äußerst produktiv sowohl auf die (Hand-)Bibliotheken, Zettelkästen, Sammlungen oder Interview- Instrumentarien von Autor*innen beziehen als auch auf die jeweiligen schriftstellerischen Texte. So kann man über das verwendete Material nicht zuletzt auch auf die politischen, historischen, sozialen Kontexte schließen, in denen literarische Texte notwendig stehen, an denen sie teilhaben und die sie ihrerseits wieder prägen. Dass man sich  auch  einen  handfesten  politischen  Einfluss  vom  Schreibtisch  aus  ‚erlesen‘  und ‚erschreiben‘ kann, haben sowohl Alexander Honold (Einsatz der Dichtung. Literatur und erster Weltkrieg, Berlin 2015) als auch Sarah Mohi-von Känel und Christoph Steier (Nachkriegskörper. Prekäre Korporealitäten in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Würzburg 2013) jüngst aufgezeigt. Literatur bleibt somit nicht ‚am Schreibtisch‘, sie wirkt vielmehr repräsentativ an den sozialen und politischen Realitäten mit. Die Abhängigkeit des kreativen Akts von der Materialität seiner Quellen wäre somit stets mit zu bedenken. ‚Material‘ generiert außerdem im Sinne der Intersektionalitätsforschung Ein- und Ausschlüsse; durch das Material werden Gruppenzugehörigkeiten geformt, denen ein unterschiedlich kodiertes ‚Anderes‘ gegenübersteht. So entfaltet beispielsweise das biologistisch-rassistische Diskurs-Material um 1900 selbst seine Wirkung in den Werken der kanonisierten Schriftsteller Thomas Mann, Robert Musil oder Theodor Fontane.

 

Programm

Donnerstag, 18. Januar 2018

10:00-11:40 Uhr
Joseph Vogl: Einführung
Gabriele Radecke: Theodor Fontane: Notizbücher. Konzept, Methoden und Workflow der digitalen Notizbuch-Edition
Nils C. Ritter: „Im Übrigen ist alles hinüber“. Fontanes Wanderungen als Reservoir einer Poetik des Enttäuschenden und Gewesenen

12:00-13:20 Uhr
Anne Ortner: Der Sammler als Mikrograph. Typenwissen zwischen Natur- und Kulturgeschichte
Agnes Hoffmann: Territorien des Geistes: Hofmannsthals Rezeption der Kulturgeographie in seinen Aufzeichnungen

14:20-15:40 Uhr
Philip Kraut: „Bearbeitungen der Fabel“. Nacherzählungen und Zusammenfassungen der Brüder Grimm zwischen philologischer Praxis und literarischer Kleinform
Pauline Selbig: „gegenreformatorisch“ – Verkürzung mit Folgen in Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels

16:00-17:40 Uhr
Manuel Bamert, Anke Jaspers, Martina Schönbächler: Produktive Lektüre. Thomas Manns Nachlassbibliothek

18:00-19:30 Uhr
Abendvortrag: Andreas B. Kilcher: Fragmentarische Totalität. Die enzyklopädische Funktion der kleinen Form um 1800

 

Freitag, 19. Januar 2018

10:00-11:20 Uhr
Katharina Hertfelder: Zwischen Metapher der Spur und Spur der Metapher – Lesefrüchte aus Hans Blumenbergs Zettelkasten
Noah Willumsen: Hat das Interview eine Geschichte? Zur Archivierung des gesprochenen Wortes

11:40-13:00 Uhr
Marie Czarnikow: Schreibszenen des Krieges archivieren und erzählen. Ein Vergleich von Tagebüchern des Ersten Weltkriegs hinsichtlich ihrer Form und Praxeologie
Florenz Gilly: Miniaturen des Untergangs. Friedrich Torbergs Anekdoten aus dem Österreich der Zwischenkriegszeit

14:00-15:20 Uhr
Ariane Totzke: Formen des Spektakels: Blasphemie, Zensur und Divergenz im deutschen Kaiserreich. Oskar Panizzas skandalöser Fall
Sebastian Zilles: Von den kleinen zu den großen Formen. Wissen in HIV/AIDS- Erzählungen

 

Organisation:
Dr. Nils C. Ritter, Ariane Totzke M.A.

Kontakt:
gkklefor@cms.hu-berlin.de

Adresse:
Humboldt-Universität zu Berlin
Institut für deutsche Literatur
Dorotheenstraße 24, Raum 3.246
10117 Berlin

Plakat: